Essen oder nicht essen
Oft sass ich stundenlang am Tisch und stochelte im Essen herum. Es war eine der wenigen Möglichkeiten die Kontrolle über mich zu behalten. Oft war das Essen nur widerwärtig, alleine der Geruch rief schon einen Würgereiz in mir hervor. Viele Strafen habe ich wegen diesem Essen schon ertragen und doch wußte ich das es meine einzige Möglichkeit war, die Menschen draussen auf mich aufmerksam zu machen. Oft kamen Sätze wie, ach wie zierlich ist dieses Kind, wie zart, armes kleines Ding. Ma schaute dann immer sehr entrüstet drein und überschlug sich mit Erklärungsversuchen, dass sie es so schwer hätte und ich keinen Appetit und das Rotkäppchen und alles andere an Aufbaupräparaten nichts halfen. Es war meine Möglichkeit es ihr heimzuzahlen, zuzusehen wie sie sich für die Pein die sie mir immer wieder antat erklären musste, dies war meine geheime Rache an sie, damit ich vor mir selber stehen bleiben konnte. Sehr oft wurde mir eingebleut was ich zu sagen hatte, wenn ich wieder blaue Flecken hatte, wenn ein Arm gebrochen war, wenn ich humpelte und ich wendete es auch gehorsam an. Oft wurde ich ungläubig angeschaut und irgendwann entwickelte sich eine Eigendynamik, ich wurde tatsächlich so verträumt dass ich überall drüber viel, stolperte doch niemals verletzte ich mich dabei so stark wie unter den Einfluss meiner Pflegeeltern.
Sie wußte dass ich bei Rosenkohl würgen musste. Wenn ich von der Schule heimkam und sie ausnahmsweise mal daheim war, ich den Geruch im Flur wahrnahm, wünschte ich mir ich könnte rückwärts wieder heraus. Oft wünschte ich mir, das Essen würde verbrennen oder die Herdplatte wäre zu hoch. Hin und wieder mußte ich den Ofen ausschalten , dieses schreckliche Gemüse noch in Butter schwenken, mehrmals versuchte ich es dann zu verbrennen und nahm selbst Ohrfeigen in Kauf, bis sie dann feststellte dass ich es absichtlich machte.
So sass ich vor diesem Gemüse und jedes einzelne dieser runden Dinger sollte in meinem Mund. Wenn ich mich weigerte , stellte sie sich hinter mir, kniff mir mit beiden Händen in die Wangen bis ich den Mund öffnete und schob das Essen in mir hinein. Meine Versuche es auszuspucken oder mein Wimmern wurden entweder mit Ohrfeigen oder mit den Kopf in den Teller halten quittiert.
Dennoch entwickelten sich auch Zeiten in denen ich verhältnismässig viel aß, besonders zu den Zeiten wo meine Wut und Haß den beiden gegenüber hochschwappte und ich mir schwor das sie mich nicht zerstörten. In den Jahren der Pubertät aß ich besonders viel, sicher ich trieb auch Sport bis zur Erschöpfung doch ich entwickelte auch einen guten Selbsterhaltungstrieb. Meine Kleidung war sie vorher schon komisch für meine Mitschüler sah noch skurriler aus und nur wenige redeten überhaupt noch mit mir. Die paar Kinder die ich an mich heranließ wollten mich bedauern und ich fuhr ihnen über den Mund das ich das so wolle. Immer mehr wurde Nahrung zu einem Machtspiel zwischen mir und ihr, irgendwann war es chronisch. Essen nicht essen, leben oder sterben wollen. Die Spirale drehte und drehte sich.
Als ich wieder begann regelmässig und bewußt zu essen, durchlitt ich Höllenqualen, alles in meinem Körper wehrte sich gegen Nahrung, ich stand mir selber im Weg. Dies in Kombination mit der beginnenden Therapie brachte mich in eine ganz brenzlige Situation. Ich achtete instinktiv immer darauf dass ich nicht zu wenig ass, gerade noch so viel das ich einigermassen existieren konnte.
Es kamen Jahre in denen ich zugunsten der Kinder auf Nahrung verzichtete. Meinem Exmann war es egal ob etwas im Haus war oder nicht, dieses oblag mir. Ich will nicht sagen dass er es ihn nicht interessierte, doch hatte er ebenso eine Möglichkeit gefunden die Realität auszublenden, so wie ich meine Vergangenheit vergraben hatte. Nahrungsaufnahme war einer der wenigen Überbleibsel aus den Kinder- und Jungendtagen. Die Monster waren dennoch Rebellen, meine Große wie auch die Kleine kämpften unbewußt einen Kampf ums Essen. Vielleicht auch weil ich dort immer versuchte erzieherisch einzugreifen, oft gewiss auch unverhältnismässig. Manchmal erkannte ich zu spät, dass es nur meine eigenen Ängste waren. Bei der Kleinen war ich danach in der Lage es zuzulassen das sie teilweise wenig aß auch wenn ich innerlich oft in Panik geriet. Jedoch lassen sich Kinder nicht überlisten, sie haben feine sensible Antennen und wußten das irgend etwas im Argen war. Meine Große war teilweise ein Pummelchen und die Mütterberatung warnte mich dass die Kleine zu kräftig wär und wenn ich sie weiter so überfüttern würde könne ich sie bald rollen. Ich weiß noch wie stolz ich war, sie war nicht zart und zerbrechlich, ihr konnte man nichts tun. Diese Übervorsorge begleitete das Mädel ihr Leben lang. Sicherlich kann man mir das heute ankreiden, ich habe sie zu sehr beschützt.
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