Ich laufe herum im Eiweiß und sehe das Eigelb , sehe alles was sich um diesen Mittelpunkt herum bewegt. Sehe dich das erste Mal als ich 16 war. Du bist also mein Bruder. Es eröffnete sich eine ganz neue Welt in mir. Dort schienen Menschen zu sein , die sich für mich interessierten und ich wurde wach. Du wolltest dass ich zu deiner Hochzeit komme , wir haben viel geredet , wollten auf die Schnelle 15 Jahre aufholen und es funktionierte letztendlich nicht. Ich sah dir vorgestern in dein Gesicht , sah meine Kälte und war zutiefst getroffen. So viel Schmerz aus deinen blauen Augen , das gleiche Blau das ich habe.
Ich habe dich verloren , vorgestern, du wolltest nichts wissen , von dem wie es mir geht, bist zu sehr in dir selber gefangen , wolltest keine Auseinandersetzung mit der Vergangenheit.
Du wusstest als wir uns umarmten warum ich da war, so wie du vieles wußtest . Als Baby hast du mich gerettet. Oft hast du es mir stolz erzählt, wie du mich als 7 jähriger Knirps ans Leben gehalten hast, ein Baby , zwar still so wie du sagtest , aber für dich wunderschön.
Du wolltest dass ich lebe , aber mein Bruder möchtest du nicht sein. Willst deinen eigenen Schmerz , dein Vergessen. Das Verleugnen von mir und deiner anderen Schwester. Oft hast du nach ihr gefragt wenn ich bei dir war. Manchmal war ich richtig eifersüchtig. Du bist als einziger zum Begräbnis unseres Stiefvaters gefahren. Ich und unsere Schwester wollten nicht, wollten ihr nicht die Genugtuung geben, dass wir an sie dachten.
Du gingst immer zu unserer leiblichen Mutter, suchtest ihre Liebe, versuchtest zu verstehen. Wir wollten das nicht.
Deine Augen waren leer vorgestern, ein gehetzter Blick , wir schauten uns nur für Sekunden an und du bist geflüchtet vor mir.
Warum nur , warum
Als du in mein Leben tratst wurde ich wach für einige Zeit. Ließ mich von dir beschützen und nahm so manchen Ärger in Kauf. Ging über Gebote und Verbote hinweg , ließ mir nicht verbieten dich zu sehen. Ma hasste dich , sie wollte nicht dass ich in deiner Nähe war, dachte sie verliert den Einfluß und ich würde zu viel erzählen. Hier und da brach etwas aus mir heraus, einige Kleinigkeiten erzählte ich dir , aber dennoch blieb mein Innerstes dir verwehrt.
Nie durften wir Geschwister sein , Du , unsere Schwester und ich. Man trennte uns und dachte es wäre das Beste. Nie durfte ich einen Bruder und eine Schwester haben, war einsam und allein.
Durch dich sah ich das erste Mal unseren leiblichen Vater. Er schaute mich ebenso an vorgestern, schaute mich nur an. Drehte den Fernseher lauter und erzählte mir etwas über die heilige Barbara . Aber es war kein Signal , sondern wie immer das Unvermögen mit mir als seine Tochter umgehen zu können. Sein Schmerz mich nicht beschützt zu haben, sein Schmerz von meinem Leiden zu wissen. Sein schlechtes Gewissen an das er nicht erinnert werden möchte.
Du und ich wir haben seine Augen , sein Gesicht , haben die Liebe zur Natur , haben seinen Weitblick.
Du und ich haben versucht mit ihm klar zu kommen. Er erzählte mir dass du sehr agressiv auf ihm reagierst. Er meinte er bräuchte sich das nicht gefallen zu lassen, wäre seit einem halben Jahr nicht mehr bei dir gewesen. Du willst Antworten und er verwehrt sie dir.
Aber das selbe mein grosser Bruder machst du mit mir.
Wie tief ist dein Schmerz , du bist der Meinung du brauchst niemanden, so kann dich auch niemand weh tun . Aber deine Augen sagen mehr , diese versteckst du nicht vor mir.
Ich wünsche dir so sehr , dass du deinen Weg findest, herausfindest aus deiner inneren Einsamkeit, hereinfindest in das Leben.
Ich weiß doch wie schwer das ist, ich weiß dass dich keiner schon als Kind verstand. Du hast versucht dich zu wehren , warst der Älteste und hast so viel mitbekommen.
Du sagstest mal , du kannst deine Kinder nicht lieben, in dir wäre nur Kälte. Bitte bekämpfe sie doch , in dir steckt doch so viel mehr.
Mein großer Bruder
Du meine Schwester, dich das erste Mal gesehen , da warst du 9. Ich wußte dass du meine Schwester bist aber durfte es dir nicht sagen. 2 Km wohnten wir voneinander entfernt und dennoch ist es der Familie gut gelungen uns auseinander zu halten. Man wollte nicht , dass wir zusammen groß werden. Wie oft habe ich dich in den folgenden Jahren um dein liebevolles Zuhause beneidet. Wie oft war ich wütend weil du trotzdem so geweint hast. Ich wollte nicht verstehen.
Du hast wunderschöne braune Augen, meine grosse ist dein Ebenbild. Jeden Tag wenn ich sie sehe , sehe ich dich. Als mein Mädel mir in die Arme gelegt wurde und ich ihre Augen sah , brach ich in Tränen aus, deine Augen , diese wunderschönen klaren Augen.
Auch heute leben wir 2 km voneinander entfernt , sehen uns beim Einkaufen und reden einige Worte als wären wir Bekannte.
Wir waren für einen kurzen Sommer zu dritt. Frühstückten oft gemeinsam und versuchten als Geschwister die Zeit aufzuholen. Ich wurde von euch als kleine Schwester belächelt und getätschelt , so als wärd ihr abgeklärt , hättet alles verarbeitet.
Aber auch in euch war Neid, dachtet , ich war ja noch so klein , habe nichts mitbekommen, nicht das was ihr erlebt habt. Ein Wettkampf um den Schmerz , wer hat am meisten mitbekommen.
Wir gingen in die gleiche Schule . Irgendwann wußten die Lehrer dass wir Geschwister waren. Du warst der Rebell, die Laute , die Schrille , die alles hinausschrie. So wie meine Grosse , du wolltest dich nicht beugen, wolltest Lösungen.
Diese Suche nach Lösungen hast du teuer bezahlt. Deine Zeit mit Drogen war für uns alle sehr hart. Dein wechselseitiges Interesse an mich , mal Ignoranz mal musste ich in deiner Nähe sein. Ich gehorschte , machte was du wolltest, denn ich wollte dir nahe sein.
Sportlich waren wir beide eine Größe , du warst immer erpischt darauf , die Beste in der Schule zu sein, ich ließ dich.
Nur im letzten Jahr deiner Schulzeit wollte ich nicht mehr dass du an mir vorbei kommst. Du hast es mir nie verziehen.
Bei deinem schweren Motorradunfall , bei den Tagen auf der Intensivstation , dem Bangen um dein Leben, dem Halten deiner Hand , bei dem Sterben deiner Ma , deinen Erklärungen wo sie hingegangen ist, deine Stärke und dein doch so unendlich tiefem Fallen. Ich konnte dir nicht helfen. Du wolltest alles von mir , wolltest mich 24 Stunden , suchtest eine Schwester die du in mir niemals finden würdest. Ich wollte keinem mehr gehören , war doch schon längst kalt auch dir gegenüber.
Ich sehe deine Tränen und lausche noch jetzt deiner Stimme mit der Erklärung wo Menschen die gut waren hinbekommen. Höre deine Worte von den grünen Wiesen und den kleinen Tautropfen , von den Elfen . Ich war fasziniert von deinen Beschreibungen.
Immer habe ich dich bewundert , immer.
Ich wandere weiter um das Eigelb herum . Viele Menschen haben mich irgendwo berührt, das Eiweiss zu erklären , gelingt mir inzwischen recht gut . Nur an dem Eigelb trau ich mich kaum heran. Ich gerate in Panik bei dem Gedanken das alles noch einmal zu erleben. Bruchteile die hervorkommen, wiederkehren , schmerzen schon so verdammt.
Selbst Tränen lösen es nicht auf , der Kern ist so fest , so unsagbar fest.
Du meine kleine Schwester, als ich dich das erste Mal sah , sah ich mich. Ich sah dir in deine Augen , 10 Jahre alt warst du . Wie oft haben wir Kissenschlacht gemacht, wie oft habe ich lange Gespräche mit dir geführt. Ich habe dich von dem ersten Tag an geliebt. Irgendwann bin ich nur für euch drei gekommen . Meinen leiblichen Vater wollte ich nicht sehen aber euch. Irgendwann habe ich dich daraus geholt, denn ich sah dass es dir schlecht geht. Wieviel Freude hatten wir daran aus dir eine kleine Prinzessin zu machen. Ich wollte das es dir gut geht, dass du lachen kannst.
Du warst oft da als Jürgen noch lebte. Dir gab ich nach Jürgen all meine Liebe. Immer bestand ich darauf das das Wort Halbschwester nicht viel , du warst ein Teil von mir. Dich habe ich tief in meinem Herzen drin. Auch wenn viel geschehen ist, auch wenn du mir doll weh getan hast, dich liebe ich nach wie vor , meine kleine Schwester.
Dir brachte ich malen bei, besorgte dir eine Staffel , dir und deinem Bruder. Als eure Ma im Krankenhaus war, sprang ich ein, versorgte euch und sorgte mich um euch. Nie hat sich das verloren . Ihr zwei seid in meinem Kopf. Du mein kleiner Bruder. Auch du bist einen schweren Gang gegangen. Hast einige Jahre Therapie hinter dir, hast so viel erlebt, wolltest deinen Vater umbringen und bist erst sehr spät zur Besinnung gekommen. Du bist der einzige der uns immer wieder erklärt , wie sehr du ihn liebst. Es wäre schön wenn du deinen Weg zu deiner inneren Ruhe gefunden hättest.
Du unser Baby der Familie. Vor 2 Jahren hast du mich am meisten getroffen unser kleiner Paradiesvogel , du mit deiner eigenen Art zu leben. Du mit deinem Plan vom Glück. Gegen mich hast du vom ersten Tag an gekämpft, weil du gemerkt hattest dass deine anderen 2 Geschwister mir so wichtig waren. Ich habe nie begriffen wie sehr du mich gebraucht hast.
Bis zu deinem Ausbruch vor 2 Jahren. Fürchterlich hast du geweint , meintest du hättest mich so dermassen gebraucht, wolltest immer dass ich auch stolz auf dich wär, wolltest in meine Arme , wolltest mich als Schwester. Immer wieder hätte ich dich zurückgewiesen, immer wieder einfach nicht beachtet. Wie schwer hast du mich getroffen aber auch wie Recht du hattest.
Du warst anders , einfach anders. Aber glaube mir ich liebe dich , so wie du bist. Liebe dich für deine Art wie du lebst, deine Art wie du versuchst , dem Leben zu begegnen.
Du Andreas, wie gerne hätte ich dich kennengelernt. Du durftest gehen , musstest nicht das ganze Leid dieser Erde ertragen. Nur 2 Jahre alt wurdest du. Ich stell mir manchmal vor wie du geworden wärst, was aus dir geworden wär. An Lungenentzündung bist du gestorben und man sagt du wärst unterernährt gewesen, hättest keine Kraft zum kämpfen gehabt. Aber vielleicht wolltest du auch nicht , vielleicht war es dir letztendlich zu viel.
Ich denke an dich.
Ihr 2 die Kinder meiner leiblichen Mutter. Irgendwann habe ich euch kennengelernt in der intakten Familie in der ihr lebtet. Neidisch war ich auf euch . Du der du hervorragend in der Schule warst, getrieben wurdest von der Familie und deinen Weg machtest und du der mir so ähnlich war, so empfindsam. Unsere Wege haben sich nur kurz gestreift , ein paar kurze Monate. Hier und da habe ich etwas von euch gehört. Nur ihr ward für sie existent , sie redete immer nur von 2 Kindern, wollte ihr Gewissen wahrscheinlich beruhigen.
Ich denke an euch
Und du weiter im Eiweiß. Ich habe dir die Chance gegeben dich zu erklären, einige Wochen lebte ich sogar bei dir, bis es dir zu viel wurde, die Fragen die du nicht beantworten wolltest, deine Erklärungsversuche die ich nie akzeptiert habe. Dein mir erklären wollen, wie die Welt funktioniert. Selbst du warst nicht anders wie Ma, anstatt einfach nur zu sagen, dass du an uns dreien den grössten Fehler deines Lebens begangen hast, kamen deine ich müsse das verstehen. Ich müsse verstehen , dass du mich nicht aus einer intakten Familie rausholen konntest. Du wußtest was los war, du wusstest wie sehr ich litt. Erzähle mir nicht du hättest deine Augen so dermassen verschlosse gehabt, deine Ohren wären so dermassen zu gewesen.
Du hast mir erzählt dass sie dich herausgeprügelt hat als du mich besuchen wolltest, du hast mir erzählt dass du kämpfen wolltest um mich, warum hattest du damals aufgehört.
Du hattest es gesehen , du wusstest wie dein Onkel war, du wußtest wo du mich hast hingehen lassen. Statt dessen hast du in deiner neuen Familie dein neues Glück gesucht.
Inzwischen wechseln wir die Strassenseite , wenn wir uns sehen. Deine Enkelkinder hast du vor einiger Zeit gesehen. Ich hab deinen Blick aus dem Augenwinkel beobachtet und mich gefragt was du fühlst. Aber auch hier warst du nicht in der Lage den ersten Schritt zu machen , nicht in der Lage uns die Hand zu reichen.
Wie muss eine Mutter empfinden wenn sie ihre Nachkommen sieht und weiß dass sie kein Teil davon ist. Ich habe dir oft allen Schmerz dieser Welt gewünscht, mich an dem Gedanken festgekrallt , dass du alles zurückbekommst an Leid dass du mir und den anderen 2 angetan hast, oft farbig ausgemalt wie du weinen würdest und es war mir eine Genugtuung. Du hast meinen Hass , meinen absoluten Hass. Anstatt mir zu erklären wie ich zu leben habe, hättest du mir erklären sollen wie mein Schmerz getilgt wird, wie mein Hass getilgt wird.
Du wusstest alles und hast weg geschaut.
Mir fehlt die Kraft heute weiter zu schreiben, selbst die Bewegung durch das Eiweiß ist für mich heute nicht so einfach.
Ich begebe mich jetzt gleich zu meiner nächsten Baustelle und hoffe inständig heute nicht am Eigelb zu landen. Alleine bei dem Gedanken schnürt sich in mir alles zu. Ich hasse diese Welt hasse den Schmerz in mir , hasse es da durch zu müssen. Ich hasse die Menschen die da waren und einfach nur weggeschaut haben, hasse es so alleine gewesen zu sein.
Ich hasse es wieder einen Gang alleine zu gehen, hasse es und weiß dennoch es muß sein.
Ich werde niemals einen richtig erklären können was im Moment in mir vorgeht. Nein es sind keine Depressionen ich werde heute am gleichen Tag auch wieder lachen können, sobald ich mir wieder sicher bin das alles verschlossen ist. Die Kanäle im Kopf zu sind, das Gehirn ausgeschaltet ist, ich mir sicher bin , dass nichts hochkommt, ich mir sicher bin dass ich nicht denken muss.
Ich mich wieder in eine schönere zufriedernere Welt zaubern kann.
Und trotzdem fahre ich auf die nächste Baustelle zu und habe das Gefühl alles was bisher gelöst ist, ist im Endeffekt Peanuts gegen dem was nun kommt. Gerne würde ich dieses doofe Schild einfach umfahren, es nicht sehen, nicht hören , nicht fühlen.
Aber ich komme daran nicht vorbei und euch hasse ich dafür , dass ich da jetzt durch muss, ihr die ihr mich begleitet habt in meiner Kindheit, ihr die ihr in der Lage ward mich frühzeitig zu retten aber weggeschaut habt.
Ich hasse euch für meine Tränen
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